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Oben ohne auf dem Balkon

 

Sie war wunderschön. Schlicht ein Traum. Ich hatte schon viele gehabt im Verlauf der Jahre, aber nur bei ihr war es Liebe mit dem ersten Anblick gewesen. Ich musste sie haben, kaum hatte ich einen Fuss über die Schwelle der Eingangstüre gesetzt. Ich stand in einem schmuck restaurierten Jugendstilgebäude, hoch über der Aare und mitten in der Stadt. Mit ihren mannshohen Fenstern, deren T-förmige Drehgriffe mich an das Bauernhaus meiner Grossmutter erinnerten, blickte die Wohnung stoisch in die Stadt hinaus. Die antiken Holzböden mit ihrem Schachbrettmuster erfüllten die Räume mit gerinnender Gemütlichkeit und wacher Wärme. Hier würde ich mich wohlfühlen, in dieser Wohnung wollte ich zu Hause sein. Keine einfache Sache in einer Stadt, in der die passenden Wohnungen nicht an jeder Strassenecke auf Bewohner warten. Ich hatte Glück. Mein Wunsch ging in Erfüllung, ich konnte die Provinz, der ich überdrüssig geworden war, verlassen und in die Stadt, an ihr Herz und ihre Aorta, umsiedeln.

 

Kaum war ich eingezogen, offenbarte sich mir eine Schönheit, die über die eigenen vier Wände hinaus wirkte. Die langschenklig angeordnete Häuserfront vis-à-vis formte mit unserer Gebäudereihe ein stilisiertes Atrium. Die sich aneinander schmiegenden Häuser strahlten eine rührende Eintracht aus. Die Auffrischungen, die ihnen im Lauf der Jahre zuteil geworden waren, hatten die Harmonie verteidigt und nicht wie in anderen Stadtteilen zu Entstellungen geführt, die beim Betrachter ein Unbehagen auslösen. Ein Unbehagen, das einen Menschen instinktiv befällt, der eine entseelte Baute vor sich hat, die wohl noch Ort der Beherbergung, jedoch nicht mehr Zuhause sein kann.

 

Die Wohnlage liess mich innerlich zum Kind werden, das sich gewohnt war, in einem zwei Meter langen und zwei Meter breiten Sandkasten zu hocken und Burgen zu bauen. Die über Kreuz stehende Ecktürme hatten und Mauern, deren Oberkanten scheue Ansätze von Scharten zeigten. Das Kind sah sich nun an einen Strand versetzt, der sich rechts und links ausdehnte, bis das Auge am Rand der Sichtweite überfordert aufgab. Seine Sandburg war mit dem Strand gewachsen, hatte eine Vielzahl von Mauern und Ecken erhalten, die von mächtigen Wehrtürmen markiert wurden. Das Herz des Kindes am höchsten schlagen liess der Burggraben. Er wurde direkt vom Meer gespeist, das im rhythmischen Gang des Wellenschlages die Burg mit frischem Wasser umspülte.

 

Bei aller kindlichen Entzückung für den äusserlichen Eindruck, vollständig wird die Stimmung erst mit den Menschen. Sie leben in den Häusern und die Häuser leben durch sie. Doch auf den Balkonen meiner Nachbarschaft liessen sich die Menschen kaum sehen. Wohin war das quirlige Leben verschwunden, dessen sich die Städter immerzu rühmen? Offenbar hinter gezogene Gardinen und heruntergelassene Jalousien. Es gab jedenfalls so gut wie nichts und niemanden zu sehen.

 

Nicht, dass ich meine Tage damit verbrachte, dauernd an die Häuserfront gegenüber zu glotzen. Wo denken Sie denn hin! Aber meistens, wenn mein Blick zufälligerweise nach draussen ging, waren die Balkone verlassen. Als scheuten sich die Leute, dort zu sitzen und den Nachbarn zu zeigen, dass sie nichts anderes taten, als eben dort zu sitzen und die Zeit zu geniessen. «Was sollen die Leute bloss denken, wenn sie dich herumlümmeln sehen?» Der Satz, den die Eltern uns Kindern jahrelang eingetrichtert hatten, er schien in meinen Nachbarn lautstark nachzuhallen.

 

Im Verlauf der Monate entdeckte ich auf den Balkonen vereinzelte Ausnahmen. Etwa den älteren Herrn im zweiten Stock schräg gegenüber, der mehrmals wöchentlich Decken, Teppiche und Kissen ausschüttelte, die Ware glatt strich und säuberlich über das Balkongeländer hängte. Während die Textilien verlüfteten, setzte er sich mit einem Buch dahinter und gönnte auch seinem Geist eine frische Brise. Nur zu gerne hätte ich gewusst, welche Lektüre der Mann las, aber ich sass zu weit weg, um die Titel erkennen zu können. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, spürte ich eine leise Enttäuschung, und einmal ertappte ich mich gar dabei, wie ich für einen kurzen Moment bereute, kein Fernglas zu besitzen.

 

Oder die untersetzte Frau auf der dritten Etage rechts von mir. Sie lebte alleine, sonst hätte sie ihren einzelnen, weissen Plastikstuhl nicht direkt vor die Balkontüre gestellt. Auf diesen setzte sie sich alle paar Stunden, um eine Zigarette zu rauchen, manchmal auch zwei. Eile kannte sie nicht, denn vor einer Viertelstunde verschwand sie nie wieder in der Wohnung. Regelmässigkeit war ihr besonders wichtig, Abwechslung schien sie nicht zu mögen. Stets trug sie ein graues Oberteil, unbesehen, ob es Leibchen, Pullover, Bluse oder Mantel war. War sie darauf bedacht, sich farblich der Fassade ihres Wohnhauses anzupassen? Eben, um nicht aufzufallen?

 

In ihren Augen wäre abzulesen gewesen, ob ich mit meiner Vermutung richtig lag. Doch Madame Grise, wie ich sie etwas einfallslos nannte, hatte vorgesorgt. Ob die Sonne schien oder dicker Nebel über der Stadt hing, sie hatte immer eine pechschwarze Sonnenbrille auf. Offenkundig war sie sich gewohnt, ausgestellt zu sein, die Blicke der Betrachter auf ihrem Körper zu spüren. Ihre Haltung sagte mir allerdings, dass es ihr nach Jahren des Missbehagens inzwischen scheissegal war, auf dem Balkon ausgespäht zu werden.

 

Als wäre sie es leid, noch länger im Fokus der Betrachtung zu sein, erhob sich Madame Grise ruckartig aus ihrem Stuhl, schob ihn beiseite, schnippte eine Kippe über die Brüstung und ging in ihre Wohnung. Ich lächelte zufrieden meine Begeisterung nach links. Meine gute Freundin Georgette stand neben mir am Stubenfenster. Sie war erstmals in meiner neuen Wohnung zu Besuch, und ich hatte ihr die Aussicht vorgeführt, die mich täglich aufs Neue gefangennahm.

 

Ich zuckte zusammen. Mich schauten zwei erschreckte Augen an. Das sorgfältig aufgetragene Make-up vermochte das Entsetzen nicht zu kaschieren. Es war eine Geste der Wertschätzung, dass Georgette sich geschminkt hatte, um mich zu besuchen. Und eine des Vergnügens, hatten wir uns doch während Wochen nicht gesehen. Wochen, in denen ich damit beschäftigt gewesen war, die Wohnung einzurichten und so richtig im Gepräge meines neuen Zuhauses aufzugehen. Nun war aus dem Make-up eine Maske geworden, dank der Georgette ihren Ausdruck nicht gänzlich der Enttäuschung ausliefern musste. Aus ihrer Stimme aber sprach ungedämpfte Fassungslosigkeit. «Ich hätte nicht gedacht, dass du ein Spanner bist!»

 

Ich fuhr erneut zusammen. Meine gute Freundin hatte mich missverstanden. Hastig erklärte ich ihr, dass ich bloss die Umgebung betrachten und nicht etwa die Leute beobachten würde. «Ich sehe da keinen Unterschied», gab sie barsch zurück. Ich versuchte ihr darzulegen, dass es um Genuss und nicht um Lust gehe, das sei doch nicht dasselbe. Und überhaupt würde Madame Grise nicht oben ohne auf ihrem Balkon sitzen. Georgette liess sich nicht überzeugen, ja meine Rechtfertigung steigerte ihren Missmut noch. «Aha. Wenn die Frau jeden Morgen splitternackt Yoga praktiziert, dann glotzt du nicht hin, sondern schaust verschämt weg. Du hältst mich wohl für dämlich?»

 

Ich fühlte mich zu Unrecht auf die Anklagebank versetzt, hatte ich doch nichts weiter getan, als was andere Menschen auch tun: ab und an aus dem Fenster auf die Nachbarschaft schauen. Ich erinnerte sie eilig an die Schwarzwäldertorte. Es hatte mich grosse Überwindung gekostet, sie zu kaufen. Im Gegensatz zu meiner Freundin konnte ich Kaffeekränzchen nicht ausstehen. Mir war in Gesellschaft von Bier und Bretzel wohler. Aus Freude über ihren Besuch und weil ich überzeugt war, dass sie meine Freude am neuen Daheim teilen würde, tat ich Georgette den Gefallen. Ihre Miene hellte sich auf, als hätte ich eben dem Voyeurismus abgeschworen. «Lass uns den Kuchen auf dem Balkon essen», schlug sie frohgemut vor. Als sie mich ansah, blickte sie in ein Gesicht, das kalt vor Grauen war.

 

Köbi, der Gartenzwerg, meint dazu: Betrachten, zuschauen, beobachten. Ihr könnt es nennen, wie ihr wollt, liebe Menschen, ihr nehmt gerne andere Leute in den Blick. Dass ihr es öfter tut, als ihr glauben wollt, merkt ihr dann, wenn ihr feststellt, dass andere Leute das Gleiche mit euch tun.

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